Samstag, 9. Juni 2018

[Rezension][Graphic Novel] CosmaComics: Luzid


Der Inhalt

Laika kann nicht träumen. Aus diesem Grund wird er eines morgens von einem unbekannten Kurier in das Hauptquartier der Firma Coma eingeladen, an einem luziden Forschungsprojekt teilzunehmen. Nichtsahnend begibt sich L. in die Hände zweier größenwahnsinniger Wissenschaftler und deren Maschine, die ihn gleich sechs unterschiedliche Träume durchleben lässt. Doch ist wirklich alles nur geträumt, was L. dort erlebt? Denn als er erwacht, fühlt er sich plötzlich um so manchen Teil seiner Selbst erleichtert...

°luftschacht Verlag (Oktober 2016) | schwarz-weiß | 
160 Seiten | ISBN 978-3-903081-05-5 | 
EUR 20,00 € [DE], EUR 20,60 € [A]

L. wunderte sich darüber, dass gerade er ausgewählt worden war. Aber die Firma Coma weiß, was sie tut. Die Firma Coma hat Einfluss.


Verloren in der Kafkaeske

Träume haben mich schon immer interessiert. Vielleicht ist es dem leichten Grusel und dem damit verbundenen Adrenalin verschuldet, dass ich so ohne weiteres mehrere Stunden damit zubringen kann, mich über die unterschiedlichsten Traumbilder zu informieren. Als ich Luzid im Verlagsprogramm von °luftschacht entdeckte, erwachte ein ähnlicher Drang in mir. Die Rätselhaftigkeit von Träumen und der seltsamen Fähigkeit, genau steuern zu können, was man im Schlaf erlebt, gibt den Wiener Comic-Künstlern von ComaComics genug Stoff für 160 Seiten Graphic Novel. Schon auf den ersten Seiten schlägt dem Leser die düstere, kafkaeske Stimmung entgegen, wie man sie aus den Klassikern des jüdischen Schriftstellers kennt.
In geradezu überzeichneter Weise wird Laika, der im Folgenden des Buches nur noch "L." genannt wird, von einem Unbekannten aufgesucht und in das Hauptquartier der Firma Coma eingeladen. Dabei bleiben die in schwarz-weiß gehaltenen Illustrationen durchweg düster und zweideutig: Die Gesichter der Figuren sind maskenhaft verzerrt, einzelne Mitarbeiter von Coma erwarten L. in dunklen Räumen mit mindestens genauso schattenhaften Intentionen. Das Gefühl der schleichenden Angst und der Befürchtung, dass etwas nicht stimmt, wird von den Bildern ebenso transportiert wie von Text, der sich stets auf der Schneide zwischen rational und irrational bewegt. Die einzelnen Szenen, in denen L. vor dem Portier und später vor den Wissenschaftlern steht, als befinde er sich in einer surrealistischen Ausführung eines Tribunals, erinnert stark an Szenen aus dem unfertigen Werk "Der Prozeß" von Kafka. Auch hier ist es ein unbekannte Entität, die Macht auf den Einzelnen ausübt und ihn letztlich vollkommen zu verschlingen droht.
L.s Reise durch die von Coma vorgesehenen Traumwelten hält diese Form der düsteren, verunsichernden Ästhetik bis zum Schluss durch und nutzt dazu die unterschiedlichen Zeichenstile seiner Autoren, um den Eindruck verzerrter Realität noch genauer auf den Punkt zu bringen. Jedem Künstler und jeder Künstlerin ist dazu ein eigenes Kapitel gewidmet, auf denen er oder sie - so erscheint es dem Leser zumindest - sehr uneingeschränkt mit der eigenen Interpretation des Hauptcharakters L. und seinen Träumen auseinandersetzen durfte. Jedes Kapitel scheint dabei ein eigenes, in sich abgeschlossenes Traumsegment zu bilden, an das sich L. im Verlauf der Geschichte zwar zurückerinnern kann, jedoch sonst kaum bis gar nicht aufeinander aufbauen. Die Inhalte der einzelnen Kapitel passen dabei ebenso zueinander, wie der jeweilige Stil der Zeichner: Von grob, kindlich und leicht verstörend, über an frühe Marvelcomics erinnernde Einfachheit mit dicken Outlines, bis hin zu äußerst detaillierten und dreidimensional schattierten Bildern ist so gut wie jede bekannte Art des Comicstils vertreten. Die steigende Komplexität der Zeichenstile scheint dabei kein Zufall zu sein: Vielmehr scheint sie auf das wachsende Selbstvertrauen des Protagonisten innerhalb seines eigenen Traums zurückzuführen zu sein. Nicht nur sein Charakter, sondern auch die Welt um ihn herum erhält mit jedem neuen Kapitel mehr Kontur und mehr Selbstbewusstsein - L. lernt ganz offensichtlich, seine Träume zu beherrschen, wie es der Titel "Luzid" letztlich schon vorweggenommen hat. Für mich als Leserin konnte diese Errungenschaft die restlichen Schwächen der Graphic Novel jedoch nicht so recht ausbügeln.


Großes Potenzial, schwache Umsetzung

"Luzid" hatte ich jedwede Hinsicht das Potenzial, eine großartige Graphic Novel zu werden. Die Idee, die Wirren des Traums und das darin transportierte Unterbewusste sichtbar darzustellen, ist eine hervorragende Idee, scheint jedoch gleichermaßen kaum umsetzbar. Bis auf ein paar wenige Panels, die den Charakter oder die Traumsituation hervorragend widerspiegeln, bleiben die Bilder großteils unzugänglich und geradezu unbefriedigend halbfertig, was einerseits zwar der Traum-Thematik wunderbar in die Hände spielt, dem Leser jedoch andererseits nicht gerade dabei hilft, dem ohnehin schon schwer verdaulichen Inhalt zu folgen. So wirkt das zweite Kapitel "Hangover" zwar nach surrealistischen Maßstäben wunderbar gelungen und voller fantastischer Ideen und vieler Details, die Zeichnungen an sich sind jedoch geradezu abstoßend und für das Auge anstrengend - decken sich auf diese Weise mit den belanglosen, unverständlichen Textausschnitten, die sowohl inhaltlich, als auch stilistisch als absoluter Nonsens zu verstehen sind.

Das Problem an der Sache ist wohl, dass mir sehr wohl bewusst ist, welchen Zweck der Zeichner des zweiten Kapitels, Lukas Frankenberger, mit dieser Art der bildlichen und textlichen Gestaltung ausdrücken wollte, es mich aber einfach nicht erreicht hat. So musste ich mich beispielsweise von Panel zu Panel furchtbar quälen, während ich versuchte die belanglosen, unverständlichen Texte zu lesen, und mir zugleich einen Reim auf die - zugegebenermaßen irgendwie dadaistischen - Zeichnungen zu machen. Während mich gerade die Zeichnungen ab der zweiten Hälfte der Graphic Novel besonders ansprachen, ließ mich die textliche Umsetzung der surrealen Geschichte vollkommen kalt: Schon auf den ersten Seiten zuckte ich über die Einfachheit und Schmucklosigkeit der Texte scharf zusammen - sie schafften es weder, einer literarischen Vorlage wie Franz Kafka in irgendeiner Weise genüge zu tun, noch waren sie in der Lage, als direkte Rede eine angenehme, natürliche Gesprächssituation zu simulieren. Die Sätze sind kurz, fühlen sich abgehackt und unfertig an, als versuchten sie in ihrem Minimalismus den Bildern Raum zu geben, die mit ihrer Aufgabe, eine stimmige Geschichte aufs Papier zu bringen, heillos überfordert sind. "Hier hätte es eindeutig mehr Text und vor allem etwas mehr literarischen Anspruch gebraucht, um den Fußstapfen, in die man treten wollte, gerecht werden zu können.


Fazit

"Luzid" hatte großes Potenzial fantastisch zu werden. Eine futuristische Adaption eines Kafkas, die unendlichen Möglichkeiten zur Traumdarstellung und die unterschiedlichen Zeichenstile vieler talentierter Künstler hätten ein echtes Kunstwerk hervorbringen können. Stattdessen bleibt die Graphic Novel hinter ihrem eigenen Anspruch zurück: Die Kapitel sind zu kurz, um in kürzester Zeit eine stimmige Story auf die Beine stellen zu können, selbst wenn die Story darin bestünde, möglichst unstimmig zu sein. Auch wenn der wachsende Detailgrad und die zunehmende Komplexität der Träume spannend zu beobachten sind, schaffen es die Bilder nicht, über den fehlenden literarischen Anspruch der Texte hinwegzutäuschen, der ein weiterer Grund dafür ist, dass die Figur L. nie zu einem spannenden Charakter erwächst. 

Die abgebildeten Phrasen sind entweder bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wie in dem oben genannten Beispielkapitel Numero Zwei, oder derartig flach, abgekupfert und wie einer Ansammlung von Hollywood-Flops entnommen, dass man sich ab der Hälfte des Buches fragt, wieso man sich überhaupt noch die Mühe macht, sie zu lesen. Als Literaturwissenschaftlerin habe ich mich so über die Kafka-Anspielung gefreut, dass mir der fehlende Stil geradezu doppelt aufgestoßen ist. Während einige Bilder, wie die des ersten und des letzten Kaptiels oder die des fünften Kapitels mich durchaus angesprochen haben, blieb der Rest weit hinter diesen zurück, und so schafften es auch die unterschiedlichen Zeichenstile nicht, mich von meinem literarischen Frust zu befreien. Hätte man sich mehr Zeit genommen und etwas mehr in die textliche wie bildliche Gestaltung sowie in die Ausformulierung des Charakters L. investiert, hätte aus "Luzid" eine hervorragende Graphic Novel werden können. Nun wirkt es leider so, wie das Kunstprojekt einer Studentengruppe, die viele unterschiedliche Ideen auf einer einzigen großen Leinwand vereinen wollten und dabei nicht vielmehr geschaffen haben, als ein einziges, großes und nur halbfertiges Chaos.


Wertung

♥♥


Vielen herzlichen Dank an den 
luftschacht° Verlag
für das Rezensionsexemplar!






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