Samstag, 9. Juni 2018

[Rezension] Yara Lee: Als ob man sich auf hoher See befände

Yara Lee: Als ob man sich auf hoher See befände



Der Inhalt

Marla und James sind jung, sie verlieben, verlieren und begegnen sich wieder. Ihr Glück scheint keine Grenzen zu kennen, bis James Marla auf seine meeresbiologische Forschungsreise nach Mexiko mitnimmt. Dort werden sie in eine böse Intrige verwickelt – und straucheln unter der Last der Missverständnisse und Feindseligkeiten. Auch Ulysses ist das Kind einer längst vergangenen Liebe, vor allem aber ist er Marlas Vater, der sie als Kind verlassen hat und der in einer melancholischen Stimmung beschließt zu sterben. Zunächst aber gilt es, den geeigneten Ort dafür zu finden – oder soll er doch eher die verlorene Tochter suchen? 

Residenz Verlag (Februar 2018) | 192 Seiten |
ISBN 978-3-903081-05-5 | EUR 22,00 € [A]


Der Anfang vom Ende

Mit ihrem Debütroman „Als ob man sich auf hoher See befände“ schickt Yara Lee ihre Figuren auf eine metaphorische Reise, auf die Suche nach etwas längst verloren Geglaubtes. Da wäre einerseits die junge Kunsthistorikerin Marla, die sich während ihres Aufenthaltes in Wien auf eine seltsam negativ bestimmte Beziehung mit dem Meeresbiologen James einlässt. Ihre Beziehung scheint von einer ständigen Abkehr von einander geprägt zu sein: Keiner hört so recht, was der andere von sich gibt, oder interessiert sich im Geringsten für die Leidenschaften des jeweils anderen. Es passt und passt dann irgendwie doch nicht – und Marla scheint geradezu verzweifelt, an der nichtexistenten Liebe ihres unterkühlten Partners James festzuhalten. Sie folgt ihm sogar auf eine Forschungsreise nach Mexiko, vielleicht weil sie ahnt, dass sie für James glanzlos geworden ist, und ihre Beziehung retten möchte, vielleicht aber auch nur, weil sie gerade nichts Besseres zu tun hat. Man weiß es nicht. Welche Gefühle es sein sollen, die diese Beziehung nun tatsächlich zu einer Beziehung macht, bleiben dem Leser bis auf weiteres verschlossen, und spätestens als James sich mit einem saloppen „Du hast mich mal fasziniert“ von Marla ab und der schönen blonden Helen zuwendet, fragt man sich zurecht, warum man sich so lange mit den beiden rumärgern musste. Denn eigentlich sucht Marla ja ihren Vater, der sie nach dem Tod ihrer Mutter als Säugling in einem Frauenstift abgegeben hat, und von dem sie glaubt, dass er noch am Leben sein könnte. Doch weder die Suche nach ihren Wurzeln, noch die sich anbahnende Kriminalgeschichte rund um einen Anschlag auf die Meeresforschungsstation in Mexiko, in die James verwickelt sein soll, kommt so richtig in Fahrt – stattdessen halten wir uns mit einer Beziehungskiste auf, von der wir schon auf den ersten Seiten wissen, dass sie zum Scheitern verurteilt ist.

Literarische Sinnsuche

Auf der anderen Seite haben wir Marlas Vater Ulysses, dessen Kapitel sich mit denen seiner Tochter Marla abwechseln, aber nicht so recht im Gleichklang miteinander funktionieren wollen. Der Name ist natürlich kein Zufall: Die Figur des Ulysses bewegt sich ganz in der Tradition des Romans „Ulysses“ von James Joyce, sowohl stilistisch, als auch inhaltlich. Während auf den Stil etwas später eingehen möchte, denn der nimmt genug Raum für eine ganze, eigene Rezension ein, ist es umso schwerer, die Ulysses-Kapitel so glatt zusammenzufassen wie die Marlas. Vielleicht sei dies mit einem einfachen Satz am besten getan: Ulysses beschließt nämlich einfach eines Tages, dass er sterben will. Darauf folgen merkwürdige Episoden des Herumreisens, des Sinnierens und Philosophierens über das Leben und Ableben, eine kurze Liebschaft mit der schönen, mythologischen Figur der Kirke, die ihn eine Weile lang bezirzt und dann von heute auf morgen einfach nicht mehr auffindbar ist. Und weil sie ihm so wichtig dann doch nicht war, macht er sich, ohne noch einmal ernsthaft nach ihr zu suchen, wieder auf seine Reise ohne Ziel. Schließlich hat er noch immer keinen passenden Ort gefunden, an denen er irgendwann mal sterben möchte, bloß lauter Orte, an denen er eben nicht sterben möchte. Aber vielleicht ist genau das das Problem? Vielleicht will er ja gar nicht sterben, vielleicht hat er sogar noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor er gänzlich aus dem Leben scheidet, und vielleicht bedeutet das für ihn, dass er seine Tochter suchen muss? Um diese selbstreflexiven Gedanken in Gang zu bringen, braucht Ulysses übrigens zuerst den guten Zuspruch einer Bar-Tänzerin, die ihm ein Buch mit leeren Seiten in die Hand drückt, um diese aus eigener Kraft zu füllen und einen Sinn in seinem Leben zu finden. Ob, wann und wie die beiden letztlich wieder vereint sein werden – denn wirklich eilig scheinen es beide nicht zu haben -, wird auf den letzten paar Seiten des Romans geradezu schießbudenartig abgehandelt: Der Leser bekommt nicht einmal die Möglichkeit, eine sich neu aufbauende Vater-Tochter-Beziehung zu erleben, die sicherlich weitaus interessanter gewesen wäre, als das deprimierende Geplänkel von Marla und James, oder der seitenfüllenden Todessehnsucht des gestrandeten Ulysses. Vielmehr fragt man sich am Ende der Reise, ob die Reise überhaupt schon angefangen hatte. Das bittere Gefühl, das am Schluss zurückbleibt, ist in etwa mit dem zu vergleichen, was man empfindet, wenn im Kino die Lichter wieder angehen, obwohl man sich gerade erst durch die zähe, endlose Kinowerbung vor Beginn des eigentlichen Films gekämpft hat.

Wenn es mühsam wird

Nicht ganz unschuldig daran ist der Schreibstil der Autorin, der sich ebenso wie die Figuren an James Joyce Ulysses und dessen berühmten Stream-of-Consciousness orientiert. Diese Form der lose aneinandergereihten Gedanken finden sich vor allem in den Kapiteln rund um Ulysses selbst, machen es dem Leser schwer dem eigentlichen Geschehen zu folgen, das so fast vollkommen aus dem Fokus rückt. Den Mittelpunkt bilden stattdessen philosophische Anekdoten und Wortspiele, die zwar ganz gut ins Ohr gehen, irgendwann aber einfach zu nerven beginnen, wenn sie entweder immer wieder auftauchen, oder im Ernstfall sogar ganze Seiten füllen. Ein ungeduldiger Leser, der das Gefühl bekommt, ein Wortspiel über die Verwendung des Wortes „glatt“ nähme kein Ende, könnte leicht in Versuchung geraten, Passagen des Textes zu überspringen, um sich beispielsweise lieber wieder mit Marla und James herumzuärgern. In den meisten Fällen sind die Wortspiele jedoch genau das, was den anstrengenden Stream-of-Consciousness erträglich machen und der Orientierungslosigkeit, die man während der Ulysses-Kapitel empfindet, eine Auszeit gönnen. Dass Autorin Yara Lee sehr gebildet und in den verschiedensten Bereichen der Kunst äußerst bewandert ist, stellt sie in ihrem Debütroman mit einer Regelmäßigkeit unter Beweis, die fast schon einschüchternd wirkt: Trotz der recht einfach gehaltenen Handlung wirken die Kapitel oft überfrachtet von philosophischen Wissensdiskursen und Wortklauberei, sodass man beim Lesen nicht nur einmal das Gefühl hat, nicht mehr mitzukommen – und gegen Ende des Romans das Gefühl nicht loswird, dass die Autorin zwanghaft versucht hat, ihr großes Wissen bei jeder Gelegenheit repräsentativ zu drapieren, um sich in ihrem Debütroman von ihrer intellektuellsten Seite zu zeigen.

Zwischen Sprache und Menschlichkeit

Dass Yara Lee ein großes sprachliches Talent besitzt, dass sie dank ihrer universitären Ausbildung in Sprachkunst sehr wohl anzuwenden weiß, ist nach Abschluss des Romans auf jeden Fall mehr als deutlich geworden. Allerdings scheint dagegen der eigentliche Inhalt von „Als ob man sich auf hoher See befände“ irgendwie nichtig und geradezu austauschbar zu werden. Andere Protagonisten, eine andere Zeit, ein anderer Ort und andere Umstände hätten den Roman vermutlich zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Yara Lees Debüt fühlt sich an wie eine Fingerübung zur sprachkünstlerischen Selbsterprobung, vergisst darüber jedoch, sich genauer mit der Menschlichkeit auseinanderzusetzen, die es doch eigentlich zum Thema haben will. Der erste Teil des Romans beschäftigt sich immerhin mit den liebenden Eltern des später nur wenig natürlich wirkenden Ulysses, deren Kennenlernen, ihrer Hochzeit und ihren Schwierigkeiten. Ein Einstieg, der den Leser sogleich auf eine gefühlvolle Familien-Saga vor einem kunsthistorischen Hintergrund polt – und Erwartungen, die durch einen anschließenden Stilbruch und einer unnötig in die Länge gezogenen, nichtigen Handlung übel verprellt werden.


Wertung

♥♥


(Diese Rezension ist im Rahmen eines Literaturkritik-Seminars an der Universität entstanden)





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