Tote Mädchen lügen nicht
Autor: Jay AsherGenre: Jugendbuch, New Adult, Slice of Life
Originaltitel: "Thirteen Reasons Why"
Erschienen: 08.10.2012
Seiten: 288
Einband: Taschenbuch
Verlag: cbt
ISBN: 978-3-570-30843-1
Preis: 8,99€ [DE] | 9,30€ [AT]
Rating: ♥♥♥♥♥
Inhalt
"Als Clay Jensen aus der Schule nach Hause kommt, findet er ein Päckchen mit Kassetten vor. Er legt die erste in einen alten Kassettenrekorder, drückt auf »Play« – und hört die Stimme von Hannah Baker. Hannah, seine ehemalige Mitschülerin. Hannah, für die er heimlich schwärmte. Hannah, die sich vor zwei Wochen umgebracht hat. Mit ihrer Stimme im Ohr wandert Clay durch die Nacht, und was er hört, lässt ihm den Atem stocken. Dreizehn Gründe sind es, die zu ihrem Selbstmord geführt haben, dreizehn Personen, die daran ihren Anteil haben. Clay ist einer davon ..." - Quelle: Verlag
Cover ♥♥♥♥♥
Ich habe mich mal wieder ein ein englisches Buch getraut. Wie immer werde ich deswegen das Cover bewerten, unter dem ich es gelesen habe, da schöne Covers für mich ein Kaufgrund sind. Das alternative, in diesem Fall deutsche Cover findet ihr wie immer unter diesem Beitrag - ich möchte es euch nicht vorenthalten. Wie oft bin ich in der Buchhandlung schon an dem hässlichen deutschen Cover mit rotem Hintergrund, grüner und schwarzer Schrift vorbei gelaufen und hatte dabei keine Ahnung, welche Perle mir entgeht? Unzählige Male! Und so stehe ich in der englischen Abteilung meines Lieblingsthalia und halte plötzlich dieses silbern glänzende Schätzchen in der Hand - so einfach geht's. Mal im Ernst, ich weiß nicht, was sich der deutsche Coverdesigner gedacht hat... aber das ging ja mal voll daneben. Das englische Cover fängt das Gefühl des Romans wunderbar auf: Die auf silbernem Hintergrund montierte Fotographie ist in sanften Schwarz-Weiß-Tönen gehalten, wie man es von alten Fotografien kennt. Wie eine verblassende Erinnerung, die im Begriff ist, sich dem schimmernden, nebligen Hintergrund anzupassen. Der Name des Romans und der Name des Autors ist dezent auf ein paar alten Holzplanken vermerkt, die aussehen wie die Überreste eines alten Zauns. Es gibt zwei Pressezitate, die im schlichten Weiß gehalten sind und sich so nicht nur wunderbar in das Gesamtbild einfügen, sondern sich auch nicht zu sehr aufdrängen. Ich mag ja für gewöhnlich keine Fotocovers, weil sie einem die Fantasie nehmen, doch in diesem Fall muss ich eine Ausnahme machen: Es ist wirklich ein wunderschönes Foto - und auch wenn Hannah in meiner Vorstellung brünett (muss an der Netflix-Serie liegen) und nicht blond ist, ist sie wunderbar getroffen. Die etwas zusamengewürfelte und trotzdem hübsche Kleidung, die kurze Haare unter einer Mütze versteckt, der abwesende Blick, als wäre sie in diesem Augenblick ganz allein auf der Welt. Hannah ist anders. Hannah ist besonders. Und so ist auch dieses Cover.
Charaktere ♥♥♥♥♥
Hannah Baker: Das Verrückte an diesem Buch ist, dass man schon nach ein paar wenigen Seiten das Gefühl hat, man würde Hannah schon seit Ewigkeiten kennen. Nach der Struktur des Romans folgen wir dem stillen Clay dabei, wie er die dreizehn Seiten der insgesamt 7 Kassetten hört und dabei Hannahs Stimme in die verschiedensten Winkel der Stadt folgt. Wir sind Clay. Und wir erleben Hannah hautnah, so, als wäre sie schon lange eine Freundin von uns, der wir uns nie so recht nähern konnten. Ich für meinen Teil habe angefangen, Hannah zu lieben. Mit all ihrem Witz, ihrem Charm, ihrer Macht, Worte zu flechten und zu ihrer Waffe zu machen. Der einzigen Waffe zu machen, die sie im Kampf gegen die Welt, die sie immer und immer wieder enttäuscht hat, noch übrig hat, um ein Exempel zu statuieren. Sie ist eine wundervolle Persönlichkeit und ich bin mir sicher, wir wären echte Freunde geworden, hätte sie jemals wirklich existiert. Aber nicht nur das. Hannah ist auch eine Repräsentantin für unzählige junge Mädchen dort draußen, denen es im Leben ähnlich ergeht und die Hilfe brauchen. Damit ist nicht (nur) die professionelle Hilfe eines Erwachsenen gemeint, sondern auch die Hilfe gleichaltriger Mitschüler, die die Anzeichen noch viel früher zu spüren bekommen als jeder Erwachsene. Hannah zeigt uns, dass wir die Macht haben etwas zu verändern. Das wir Leben zerstören können, wenn wir nicht Acht geben, und dass wir Leben retten können, wenn wir uns nur eine Minute Zeit nehmen und bewusst werden, dass es sich lohnt, zu helfen. Auch wenn es nur ein offenes Ohr ist.
Clay Jensen: Zugegeben, Clay ist nicht der ausdrucksstärkste Charakter, der mir je untergekommen ist. Eigentlich ist er sogar das Gegenteil. Er ist still, bekommt in entscheidenden Situationen oft den Mund nicht auf, hat eine blütenreine Weste und deswegen keine Probleme in der Schule - oder? Er hat immer versucht ein guter Mensch zu sein, ohne sich dabei allzu sehr anstrengen zu müssen. Man könnte sagen, er ist natürlicherweise eine gute Seele, doch manchmal fehlt ihm der Blick über den Tellerrand hinaus. Während er Hannahs Kassetten hört, folgen wir ihm auf Schritt und Tritt und eigentlich passiert ihm dabei nicht viel. Er sitzt in einem Diner und trinkt einen Milchshake. Oder er steht vor einem Alkoholgeschäft und starrt dabei die ganze Zeit nachdenklich vor sich hin. Manchmal trifft er jemanden aus seiner Schule, doch er redet nicht viel. Was ist nun eigentlich das interessante an Clay Jensen? Warum folgen wir ihm und nicht einer der anderen Personen auf diesen Tapes? Das Interessante ist das, was in seinem Inneren vor geht: Während Hannah uns die Gründe dafür aufzählt, wieso ihr diese Welt zuwider geworden ist, führt Clay im Kopf mit ihr eine Argumentation darüber, wieso es noch Hoffnung gegeben hätte. Was Hannah hätte tun können. Er nimmt so stark die Position des Lesers ein, das man manchmal ganz vergisst, dass er überhaupt noch da ist, irgendwo zwischen den Zeilen, die mit Hannahs Stimme aus dem Walkman fast den ganzen Raum einnehmen. Er ist dabei niemals ignorant oder verständnislos - im Gegenteil: Er versucht es, mehr als jeder andere, Hannah zu verstehen. Aber er sucht auch Lösungen. Hätte es nicht irgendetwas gegeben, was man hätte tun können, um Hannah zu retten?
Schreibstil ♥♥♥♥♥
Es ist das erste Buch von Jay Asher, das ich in die Finger bekomme - aber ich muss gestehen, ich bin jetzt schon süchtig und suche insgeheim schon nach dem nächsten. Für mich ist er ein absolut grandioser Autor, der es schafft, Gefühle jeder Art so präzise in Worte zu fassen, dass es einen Umhaut. Hannahs Monolog (bzw. indirekter Dialog mit Clay) ist ein absolutes Meisterwerk und eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich kann nicht einmal richtig in Worte fassen, was es war, was mich sprachlich so mitgerissen hat. Es fühlte sich einfach einerseits so literarisch, andererseits so hautnah an. Seine Sprache ist modern und trifft den Ton meiner Generation so präzise, dass es mir Gänsehaut bereitet hat. Die englische Originalausgabe erschien im August 2009. Zu diesem Zeitpunkt war ich 16. Hannah hätte eine Freundin von mir sein können, Hannah hätte ich sein können. Und Jay Asher schafft es, so präzise sich in die Gedanken- und Gefühlswelt, in die sprachlichen Eigenheiten eines 16 Jährigen Mädchens einzufühlen, dass es beinahe gruselig ist. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Leistung.
Handlung ♥♥♥♥♥
Wie bereits erwähnt teilt sich Hannahs Geschichte (denn es ist Hannahs Geschichte, nicht Clays) in zwei Erzählebenen: die vergangene Ebene der Kassettenaufnahmen und die gegenwärtige Ebene Clays, der gerade dabei ist, diese Aufnahmen zu hören. Beide Ebene laufen parallel und wechseln sich dabei immer wieder ab. Manchmal unterbricht Clay Hannahs Redefluss, indem er die Kassette pausiert, dann erscheint ein Pausezeichen und du als Leser weißt genau, okay Hannah muss kurz warten. Wenn er fortfährt, drückt er wieder Play und der Leser sieht anhand des Playzeichens, dass es weitergeht. Wenn eine Seite einer Kassette zu ende ist, wird dies mit einem Stopzeichen demonstriert. Zurückgespult wird niemals. Man kann die Vergangenheit nicht rückgängig machen. Clay Handlungsstrang bleibt während der gesamten Geschichte relativ flach, nur ab und zu, wenn er die Kassette pausiert, gerät er in einen Dialog mit anderen oder wechselt seinen Standort. Seine Erzählung gewinnt mit der Tatsache an Spannung, dass er die Kassetten absolut geheimhalten muss - vor seiner Mutter oder vor anderen Schülern, die nicht von der Existenz dieser Tonaufnahmen wissen. Immer wieder redet er sich um Kopf und Kragen und man verspürt als Leser den selben Spannungsdruck wie Clay: Wehe - du - verplapperst - dich! Hannahs Geschichte jedoch, aufgeteilt in dreizehn Kapitel, enthält Anekdoten aus ihrem Leben, die sie über die Jahre hinweg gesammelt hat und die sie all die Zeit über belastet haben. Jede der dreizehn Seiten ist einer Person gewidmet, die Schuld an ihrem Leid hat. Egal ob eine große oder eine kleine Schuld, alles hängt irgendwie zusammen und eines führt zum anderen. Nicht immer ist sofort klar, wer mit einer Seite gemeint ist und was diese Person getan hat, aber sprachlich sind die einzelnen Kapitel so aufgebaut, wie eine gute Geschichte eben aufgebaut sein muss: Anfang, Spannungssteigerung, Höhepunkt, Conclusio. Jedes Kapitel ist eine Welle, wie das Bild eines Herzschlags, ein absolutes Gefühlschaos für den Leser. Manchmal versteht man Hannah nicht. Manchmal ist die Geschichte gar nicht so spannend, wie sie am Anfang noch aufgebauscht wird. Aber am Schluss ergibt alles ein großes, schreckliches Ganzes und auch wenn Hannahs Entscheidung nicht zu entschuldigen ist, hat man dennoch das Gefühl ihre Beweggründe verstanden zu haben.
"And when I say my final words ... well probably not my final words, but the last words on these tapes ... it's going to be one tight, well-connected, emotional ball of words. - In other words, a poem." (S. 178)
Gesamtwertung ♥♥♥♥♥
Ich will ehrlich sein: Tote Mädchen Lügen Nicht, oder "Thirteen Reasons Why" ist harter Tobak und ich würde es niemandem empfehlen, der emotional zu zart besaitet ist, um mit den dunklen Seiten der menschlichen Psyche klar zu kommen. Dieses Buch handelt von einem Überlebenskampf, nicht mehr und nicht weniger. Zu Beginn, wenn der Kampf noch nicht seine vollen Ausmaße angenommen hat, kann man noch jubeln darüber, wie stark Hannah der Welt, die ihr nur Zitronen bietet, die Stirn bietet, und Limonade daraus macht. Doch gegen Ende hin kann man selbst nicht mehr. Hannahs letztes Kapitel war für mich selbst kaum zu ertragen. Man weiß, wie das Buch ausgeht, doch man befindet sich - ebenso wie Clay - auf den letzten Seiten immer noch in einem Zustand absoluten Leugnens. Aus Selbstschutz und auf der Suche nach Hoffnung in dieser Welt. Wer nicht in der Lage ist, Literatur und Realität zu differenzieren, ist hier fehl am Platz. Denn die Grenzen sind hier gefährlich verschwommen. Nichtsdestotrotz halte ich dieses Buch für eines der genialsten, das ich je gelesen habe. Psychologisch, pädagogisch, menschlich auf den Punkt. Eigentlich sollte es Pflichtlektüre für Lehrer sein - für Schüler halte ich dieses Buch fast zu gefährlich, denn es gibt immer jemanden, der den Sinn hinter den Worten falsch interpretieren könnte. Dieses Buch ruft dazu auf, ein Auge auf unsere Mitmenschen zu haben und im Hinterkopf zu behalten, dass unsere Handlungen und unsere Worte Auswirkungen auf das Leben der Menschen um uns herum haben - auch wenn es nur kleine Auswirkungen sind, je mehr zusammenkommt, umso stärker ist der Impact im Ganzen. Wir kennen unsere Kollegen, Mitschüler, Nachbarn nicht, wir kennen ihr Leben nicht, wir kennen ihre Vergangenheit nicht. Wir kennen nur unser eigenes Leben. Wir können nicht wissen, was wir zerstören, ob wir es zerstören oder wie sehr. Aus diesem Grund müssen wir aufeinander Acht geben. Ob wir jemandem weh tun oder ob wir ihm die Hand reichen und mit ihm einen Kaffee trinken, einfach da sind, kann schon einen Unterschied machen. In einer Gesellschaft trägt man sich immer auch etwas gegenseitig. Und gerade Eltern und Vertrauenslehrer, die oftmals die letzte entscheidende Instanz für Jugendliche darstellen, müssen sich darüber im Klaren sein.
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