Sonntag, 24. Juni 2018

[Rezension] Hayley Long: Der nächstferne Ort


Der Inhalt

Ein schrecklicher Autounfall bringt das Leben der beiden Brüder Griff und Dylan vollkommen aus dem Gleichgewicht. Denn plötzlich gibt es keinen Ort mehr, an den sie gehören, und keinen, an dem sie sich wirklich zuhause fühlen können. Während der jüngere Griff sehr schwer mit der Bewältigung seiner Trauer zurecht kommt, tut sein großer Bruder Dylan alles daran, ihm durch die schwere Zeit zu helfen. Doch wer hätte gedacht, das der Platz, den sie für sich auf der Welt finden werden, schon bald eine weitere Trennung bedeutet?

Königskinder [Carlsen] (März 2018) | 336 Seiten |
ISBN 978-3-551-56040-7 | EUR 19,99 € [DE]
EUR 20,60 € [A]



“Wie gesagt, New York ist eine riesengroße Stadt mit mehr als achteinhalb Millionen Einwohnern. Und mittendrin mein trauriger und verstörter kleiner Bruder. Und gleich hinter ihm: ich. Und ich tat mein Bestes, um ihn da durchzubringen.”


Wusstet ihr, dass der Königkinder Verlag, als Tochterverlag des großen Carlsen Verlags, dieses Jahr seine Pforten schließt? Und wusstet ihr, dass dieser Verlag eine Menge richtig guter Bücher im Sortiment hat, die sich einfach nicht verkauft haben, weil zu wenig davon gesprochen wurde? Auch wenn ich sicherlich ein paar Jahre zu spät komme, möchte ich meinen Irrtum, nicht schon früher auf die Königskinder gestoßen zu sein, damit wiedergutmachen, dass ich in den kommenden Monaten eine gewisse Anzahl der Bücher lesen und rezensieren möchte, die ich bis dato verpasst habe. Und dem ganzen Projekt damit ein kleines Denkmal setzen. Wie schön wäre es, wenn andere Blogger sich mir anschließen würden. Vielleicht könnten wir dadurch sogar etwas bewirken? #RettetdieKönigskinder!


Überall und Nirgendwo

Als die beiden Brüder Griff und Dylan mit ihren Eltern in einen schrecklichen Autounfall verwickelt werden, ändert sich ihr Leben von einem schrecklichen Augenblick zum nächsten. Plötzlich haben sie weder eine Familie, noch ein richtiges Zuhause - schließlich waren sie mit ihren weltoffenen Eltern stets unterwegs, lebten in Shanghai, New York und München, hatten eigentlich nie einen fixen Ort, den sie ihr zuhause nannten, waren  ihre Eltern in ihrem Leben doch stets die einzige Konstante. Aber natürlich hatten sie sich auch immer gegenseitig. Und so halten die beiden nach dem schrecklichen Unglück ganz besonders aneinander fest; zumindest Dylan, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, lässt seinen Bruder nicht eine Sekunde lang aus den Augen, scheint seinen eigenen Schmerz dabei ganz und gar zu vergessen und sein Heil in den Pflichten eines großen Bruders zu suchen. Lange Zeit habe ich mich darüber geärgert, dass, während Dylan oftmals viel zu wenig egoistisch agiert, was seine eigene Trauer betrifft, sein jüngerer Bruder Griff viel zu stark im Mittelpunkt steht. Dass diese brüderliche Hierarchie innerhalb des Romans eine noch größere Bedeutung haben würde, merkte ich tatsächlich erst sehr viel später.
Der Weg zurück in die Normalität wird für die beiden jedoch kein Kinderspiel. Zunächst kommen sie bei ihrer ehemaligen Schulleiterin Blessing und deren liebenswürdigen Hund Marlon unter, die ihnen voller Wohlwollen ein neues Leben ermöglichen will. Gemeinsam mit ihrer etwas seltsamen und irgendwie unfreundlichen Nachbarin Freda, die ich bei meiner ersten Lektüre ganz besonders ins Herz geschlossen hatte, versucht die ältere Dame der Trauer der Jungen so viel Platz wie möglich zu geben - schafft es dabei aber nicht so recht, zu ihnen durchzudringen. Vermutlich gibt sie sich genau deswegen so schnell geschlagen, als ein Anruf aus Wales bei ihr eingeht, der Dylan und Griff auf einen ganz anderen Lebensweg führen soll.

Über die Längen des Trauerns

Und so kommt es, dass die beiden Brüder New York und ihre neu gewonnenen Freunde recht bald schon wieder verlassen müssen und zu der quirrligen Cousine ihrer Mutter ziehen, die aus familiären Gründen das Sorgerecht beantragt hat. Den ständigen Ortswechsel längst gewöhnt, trauern die beiden Jungen dem Abschied von Blessing, Marlon und Freda nur eine kurze Zeit nach - vielmehr vermischt sich der Schmerz mit dem längst undurchdringbaren Gefühlskonvolut, das sie seit dem Tod ihrer Eltern in ihren Herzen tragen. Hayley Long schafft es jedoch sehr gut, die traurige Schwere, die die beiden begleitet, so in Worte zu fassen, dass sie den Leser zwar berühren, aber nicht in einer deprimierenden Lesestimmung gefangenhalten. Das Buch liest sich weiterhin locker und leicht, und dabei doch noch so emotional verständlich, dass sie das Thema Trauer und Verlust auch für jüngere Leser gut verdaulich behandeln und zugleich einen Funken Hoffnung transportieren. Besonders der ältere Bruder Dylan, aus dessen Sicht der Roman geschildert ist, ist ein emotionaler Ankerpunkt für die Leser, da er sich seinem Schmerz nicht derart hemmungslos hinzugeben scheint sein Bruder Griff - wie bereits erwähnt finde ich jedoch, dass dadurch seine psychologische Nachvollziehbarkeit etwas an Authentizität verliert. Wie kann ein Junge, der seine Eltern verliert, nicht vollkommen erschüttert sein? Für die Lesesituation mag das zwar positive Auswirkungen haben, für die Glaubwürdigkeit der Geschichte jedoch eher weniger. Auch wenn der große Clue am Ende des Romans so einiges dazu beiträgt, diese Schwäche in der Romanstruktur wieder auszubügeln. Zugleich führt Griffs starke Niedergeschlagenheit und Lähmung auch dazu, dass die Handlung eine ganze Weile im eigenen Sumpf stecken bleibt: Während er sich in seinem Zimmer vergräbt oder unmotiviert versucht (oder eben nicht versucht) wieder Anschluss in der Schule zu finden, passiert einfach nicht allzu viel, was die Handlung wirklich ins Rollen bringen würde. Durch das fehlen eines ordentlichen Höhepunkts pöätschert die Handlung einfach vor sich hin und gipfelt erst am Schluss in Auflösung und Reintegration. Der leichte, schöne Schreibstil trägt hierbei definitiv zur entspannten Lektüre bei - ein allzu pathetische Stimmung hätte möglicherweise dazu geführt, dass ich das Buch abgebrochen hätte.

Fazit

Hayley Longs Roman "Der nächstferne Ort" ist für mich ein ganz wunderbarer Roman, der mich von vorne bis hinten kontinuierlich bei der Stange halten konnte. Der wunderbar leicht zu lesende Schreibstil der Autorin sowie die sympathischen Charaktere - sowohl die Hauptcharaktere Griff und Dylan, als auch die Nebencharaktere Blessing, Freda und Co. - haben zur leichten Aufbereitung eines sehr schweren Themas beigetragen und führen dazu, dass sich der Roman auch für jüngere Leser sehr gut eignet. Besonders den Tieren kommt in der Romanhandlung eine starke Rolle zu: Hund und Katze bieten gleichermaßen Rückzugsort wie Ansprechpartner für die trauernden Kinder und bieten ihnen eine Möglichkeit, ungestört über das zu sprechen, was sie eigentlich für unaussprechlich halten. Die therapeutische Wirkung, die der Umgang mit Tieren erwiesenermaßen hat, kommt hier wunderbar zum Ausdruck. Und doch sollte man sich darauf gefasst machen, dass der Roman gerade im Mittelteil etwas an Spannung verliert und in den Erinnerungen, in denen sich Dylan stets an einen nächstfernen Ort begibt, beginnt stark vor sich hinzuplätschern. Auch schafft es Dylans Charakter an sich nicht immer, vollkommen überzeugend und authentisch zu sein, trägt mit seiner leichten, vernünftigen Stimmung aber auf jeden Fall den gesamten Roman. Eine schöne, leichte Lektüre für Zwischendurch, die einem lehrt, das zu schätzen, was man hat - und was man am meisten auf der Welt liebt.

Wertung

♥♥

Ich danke dem Königskinder Verlag für die Übersendung des Rezensionsexemplars.






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