Autor: Hubert
Zeichner: Kerascoët
Genre: Graphic Novel, Slice of Life
Erschienen: 1. April 2016
Seiten: 224
Einband: Hardcover
Verlag: Reprodukt
ISBN: 978-3-95640-072-8
Preis: 39,00€
Rating: ♥♥♥♥
Inhalt
"Paris zu Beginn der Dreißigerjahre. Die Schwestern Agathe und Blanche zieht es aus der französischen Provinz in die Hauptstadt, wo sie als Zimmermädchen ihr Glück suchen. Während die lebenshungrige Agathe freudig durch die Tanzlokale zieht, fiebert Blanche allnächtlich ihrer Rückkehr entgegen. Bis Agathe eines frühen Morgens brutal aus dem Leben gerissen wird. Blanche schwört Rache und macht sich im Rotlichtmilieu der Stadt auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester. Nicht lange, und sie wird selbst zur Gejagten… Mit ihrer mitreißende Geschichte um die bezaubernde Blanche, die als “Fräulein Rühr-mich-nicht-an” zur Attraktion des Luxusbordells Pompadour wird, gelingt Hubert und Kerascoët ein anschauliches Sittengemälde der französischen Metropole in den Zwischenkriegsjahren." - Quelle: Verlag
Cover ♥♥♥♥♥
Die Gesamtausgabe "Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An" besticht mit einem einfachen, aber besonders eleganten Cover. Vor dem dunkel gehaltenen Hintergrund bildet die junge Blanche mit ihrem 30er-Jahre Bob-Haarschnitt und der leicht schamhaften Haltung den Fixpunkt des Bildes. Obwohl sie leicht abgerückt vom Mittelpunkt der Bildkomposition bleibt, zieht sie sofort die Blicke der Betrachter und schaut dabei so beschämt zur Seite, als könne sie die Aufmerksamkeit nicht ertragen, die ihr unfreiwillig zuteil wird. Mit streng verzogenem Gesicht fixiert sie den Titel der Graphic Novel, der ihr Wesen so wunderbar beschreibt und gleichermaßen ihr von Unglück verfolgtes Schicksal ankündigt. Das Material, aus dem der Buchdeckel gemacht ist, fühlt sich samtig und zugleich etwas ledrig an, als hätte man ein Buch wie Seide in der Hand. Auf diese Weise ist das Cover nicht nur ein Augenschmaus, sondern auch ein kleines Fest für den Tastsinn - obwohl es relativ schwer in der Hand liegt, möchte man es am liebsten gar nicht mehr weglegen. Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An beweist mit Leichtigkeit, dass es nicht immer ein farbenprächtiges, überladenes Cover braucht, um die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf sich zu ziehen.
Charaktere ♥♥♥♥♥
Blanche: Anders als die Hauptperson aus Schönheit (ebenfalls eine Graphic Novel von Hubert & Kerascoët) war mir Blanche von Anfang an sympathisch und blieb es bis zum Schluss. Als Zimmermädchen versucht sie, gemeinsam mit ihrer Schwester Agathe, eine Zukunft in Paris aufzubauen, doch die beiden sind nicht gerade vom Glück verfolgt. Eines Abends wird Agathe von zwei Unbekannten brutal ermordet. Außer sich vor Angst, Trauer und Wut muss Blanche von nun an
lernen, ganz alleine klar zu kommen. Kurzerhand sucht sie Schutz in einem Edelbordell im Rotlicht-Viertel von Paris, obwohl sie eigentlich noch Jungfrau und gar nicht dazu bereit ist, sich von irgendwem ungebührlich berühren zu lassen. Um dennoch eine Anstellung im Freudenhaus bekommen zu können, übernimmt sie schließlich die Rolle der Auspeitscherin und macht sich als 'Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An' einen Ruf. Während sie zu Beginn der Graphic Novel noch im Schatten ihrer Schwester Agathe zu verschwinden droht und kaum Präsenz zeigt, entwickelt sich Blanche im Verlauf der Geschichte zu einer starken, willensstarken Persönlichkeit, ohne sich allzu sehr in den Mittelpunkt zu drängen. Ihre Stärke verlässt sie jedoch im Rahmen ihrer (unfreiwilligen) Abhängigkeit von anderen Figuren in ihrem Umfeld wie dem blonden, liebenswürdigen Antoine, ihrer Arbeitgeberin oder ihrer Mutter. Viel zu oft gerät sie im blinden Vertrauen an genau die falschen Leute und bezahlt ihren Irrtum teuer.
lernen, ganz alleine klar zu kommen. Kurzerhand sucht sie Schutz in einem Edelbordell im Rotlicht-Viertel von Paris, obwohl sie eigentlich noch Jungfrau und gar nicht dazu bereit ist, sich von irgendwem ungebührlich berühren zu lassen. Um dennoch eine Anstellung im Freudenhaus bekommen zu können, übernimmt sie schließlich die Rolle der Auspeitscherin und macht sich als 'Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An' einen Ruf. Während sie zu Beginn der Graphic Novel noch im Schatten ihrer Schwester Agathe zu verschwinden droht und kaum Präsenz zeigt, entwickelt sich Blanche im Verlauf der Geschichte zu einer starken, willensstarken Persönlichkeit, ohne sich allzu sehr in den Mittelpunkt zu drängen. Ihre Stärke verlässt sie jedoch im Rahmen ihrer (unfreiwilligen) Abhängigkeit von anderen Figuren in ihrem Umfeld wie dem blonden, liebenswürdigen Antoine, ihrer Arbeitgeberin oder ihrer Mutter. Viel zu oft gerät sie im blinden Vertrauen an genau die falschen Leute und bezahlt ihren Irrtum teuer.
Antoine: Zuerst dachte ich, ich hätte es mit einer ungewöhnlichen Adaption des Filmklassikers Pretty Woman zu tun, als der blonde Gentleman aus gutem Hause plötzlich in Blanches Zimmer sitzt und gar nicht das tun möchte, was man von einem Mann in einem Bordell erwarten würde. Er möchte
einfach nur plaudern. Und Zeit mit der schönen, kühlen, unberührbaren Blanche führen, die sich natürlich sofort zu ihm hingezogen fühlt. Aber nein, Antoine ist kein üblicher Schnulzen-Held, wie wir ihn aus diversen Liebesfilmen nur allzu gut kennen. Vielmehr ist er ein Ertrinkender, der sich an Blanche klammert, wie an seinen letzten Strohhalm. Die geheimnisvolle, liebenswerte Art des reichen, jungen und gutaussehenden Barons hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Ständig erwartete ich, dass er sich als verlogener Psychopath entpuppte, und dass sich das bisschen Freude, das die Protagonistin in ihrem Alltag hatte, sich auch noch in Luft auflöste. Letztlich hat mich Antoines Geschichte an der Graphic Novel am meisten beeindruckt. Unvorhergesehen und gewohnt konsequent schaffen es Hubert & Kerascoët das Bild eines jungen Mannes zu schaffen, der auch bloß ein Kind seiner Zeit und ihren Grausamkeiten damit ebenso hilflos ausgeliefert ist wie Blanche.
einfach nur plaudern. Und Zeit mit der schönen, kühlen, unberührbaren Blanche führen, die sich natürlich sofort zu ihm hingezogen fühlt. Aber nein, Antoine ist kein üblicher Schnulzen-Held, wie wir ihn aus diversen Liebesfilmen nur allzu gut kennen. Vielmehr ist er ein Ertrinkender, der sich an Blanche klammert, wie an seinen letzten Strohhalm. Die geheimnisvolle, liebenswerte Art des reichen, jungen und gutaussehenden Barons hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Ständig erwartete ich, dass er sich als verlogener Psychopath entpuppte, und dass sich das bisschen Freude, das die Protagonistin in ihrem Alltag hatte, sich auch noch in Luft auflöste. Letztlich hat mich Antoines Geschichte an der Graphic Novel am meisten beeindruckt. Unvorhergesehen und gewohnt konsequent schaffen es Hubert & Kerascoët das Bild eines jungen Mannes zu schaffen, der auch bloß ein Kind seiner Zeit und ihren Grausamkeiten damit ebenso hilflos ausgeliefert ist wie Blanche.
Zeichenstil ♥♥♥♥♥
Ich bin aus gutem Grund seit einigen Monaten ganz vernarrt in die Arbeiten des französischen Künstlers Kerascoët. Vor seinen äußerst detaillierten Hintergrundgrafiken sind seine Figuren zwar überraschend einfach gehalten, doch weiß er ganz genau, wie er jeder einzelnen von ihnen in individuellen Körperhaltungen, Bewegungen und Ausdrücken Leben einhauchen kann. Jeder Charakter besitzt seine eigene Form, eigenen Stil, eigene Farbgebung und eigene Art der Mimik, was sie alle extrem plastisch erscheinen lässt. Besonders verliebt bin ich in seine Darstellung von Blanche
als 'Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An': Streng, irgendwie hilflos und dabei absolut bezaubernd. Obwohl wir uns hier im Rotlicht-Milieu bewegen, werden die Zeichnungen niemals zu explizit, jedoch explizit genug, um dem Leser in regelmäßigen Abständen eine Gänsehaut zu bereiten. Da Blanche sich nicht prostituiert, sondern 'bloß' die Auspeitscherin des Bordells ist, kommt sie mit derart Vorgängen im Haus auch eher selten in Berührung - und es geht auch nicht darum, möglichst viel Nacktheit und Sensation in ein Bild zu packen, sondern vielmehr darum, um ein kritisches Licht auf die Gesellschaft im Paris der 30er Jahre zu werfen. Kerascoët gelingt diese Gratwanderung zwischen erschreckender Explizitheit und psychologischer Tiefe der Figuren auf eine faszinierende, elegante Weise. Statt die Frauen zu enthumanisieren, sie bloß zu Fleisch zu machen, stehen sie stets aufrecht und mit stolz, präsentieren sich als greifbare Charaktere, wie sie einem jederzeit auf der Straße begegnen könnten. Ungezügelte Gier und Hass sind jedoch Attribute, die den Menschen jede Besinnung rauben - Momente, in denen Kerascoët nicht zögert, das tiefste, dunkelste und hässlichste Innere eines Menschen hervorzubringen, der im Begriff ist, all seine Menschlichkeit und Vernunft über Bord zu werfen. Die Emotionen, die der Künstler in seinen Bildern zu transportieren weiß ist, sind trotz der überraschenden Einfachheit der Figurenzeichnungen geradezu greifbar.
als 'Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An': Streng, irgendwie hilflos und dabei absolut bezaubernd. Obwohl wir uns hier im Rotlicht-Milieu bewegen, werden die Zeichnungen niemals zu explizit, jedoch explizit genug, um dem Leser in regelmäßigen Abständen eine Gänsehaut zu bereiten. Da Blanche sich nicht prostituiert, sondern 'bloß' die Auspeitscherin des Bordells ist, kommt sie mit derart Vorgängen im Haus auch eher selten in Berührung - und es geht auch nicht darum, möglichst viel Nacktheit und Sensation in ein Bild zu packen, sondern vielmehr darum, um ein kritisches Licht auf die Gesellschaft im Paris der 30er Jahre zu werfen. Kerascoët gelingt diese Gratwanderung zwischen erschreckender Explizitheit und psychologischer Tiefe der Figuren auf eine faszinierende, elegante Weise. Statt die Frauen zu enthumanisieren, sie bloß zu Fleisch zu machen, stehen sie stets aufrecht und mit stolz, präsentieren sich als greifbare Charaktere, wie sie einem jederzeit auf der Straße begegnen könnten. Ungezügelte Gier und Hass sind jedoch Attribute, die den Menschen jede Besinnung rauben - Momente, in denen Kerascoët nicht zögert, das tiefste, dunkelste und hässlichste Innere eines Menschen hervorzubringen, der im Begriff ist, all seine Menschlichkeit und Vernunft über Bord zu werfen. Die Emotionen, die der Künstler in seinen Bildern zu transportieren weiß ist, sind trotz der überraschenden Einfachheit der Figurenzeichnungen geradezu greifbar.
Handlung ♥♥♥♥
Blanches Geschichte ist eine voller Rückschläge. Sie verliert nicht nur eine der wichtigsten Personen in ihrem Leben, sondern auch ihre Lebensgrundlage und den Halt, den sie gebraucht hat, um am Leben zu bleiben. Nun rudert sie auf der Suche nach einem Fixpunkt durchs Leben und findet ihn dort, wo ihn verlorene Frauen nicht selten zu finden glauben: In einem Freudenhaus. Doch nachdem sie alles verloren hat, was ihr wichtig ist, bleibt zumindest eine Sache, die sie mit allen verblieben
Mitteln und letzter Willenskraft noch schützt - die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper. Das einzige Besitzrecht, das ihr bleibt. Blanche lässt sich von niemandem anfassen, und schon gar nicht zu einem niederen Zweck der Befriedigung. Dabei ist sie unglaublich stark, trifft in einem Freudenhaus natürlich auf so manche Hindernisse und böse Geister, die ihr dieses Recht nehmen wollen. Und dann ist da auch noch der Mordfall ihrer Schwester, der viel zu schnell von der Presse vertuscht wird und dadurch unter den Tisch zu fallen droht. So begibt sich Blanche eben auf eigene Faust auf die Suche nach dem Mörder und bringt sich dadurch mehr als nur einmal in große Gefahr. Die Geschichte mit dem Mordfall flicht sich wunderbar in den Erzählstrang mit dem Bordell ein, wird jedoch gegen Ende hin vollkommen von einem dritten Erzählstrang überlagert, der Blanches voll Aufmerksamkeit auf sich zieht, nämlich ihr Kennenlernen Antoines mit seiner erschreckenden Poente. Alles in allem ist die Handlung in Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An wahnsinnig spannend von Anfang bis Ende, trotz der kleinen Längen im Mittelteil, doch nimmt für meinen Geschmack eine etwas zu abrupte Wendung: Die initiale Mordfall wird als roter Faden vollkommen fallen gelassen und nur unbefriedigend aufgelöst. Über die Enttäuschung trägt einen jedoch das grandiose Ende hinweg, das fieser, erschütternder und dadurch konsequenter nicht hätte sein können.
Mitteln und letzter Willenskraft noch schützt - die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper. Das einzige Besitzrecht, das ihr bleibt. Blanche lässt sich von niemandem anfassen, und schon gar nicht zu einem niederen Zweck der Befriedigung. Dabei ist sie unglaublich stark, trifft in einem Freudenhaus natürlich auf so manche Hindernisse und böse Geister, die ihr dieses Recht nehmen wollen. Und dann ist da auch noch der Mordfall ihrer Schwester, der viel zu schnell von der Presse vertuscht wird und dadurch unter den Tisch zu fallen droht. So begibt sich Blanche eben auf eigene Faust auf die Suche nach dem Mörder und bringt sich dadurch mehr als nur einmal in große Gefahr. Die Geschichte mit dem Mordfall flicht sich wunderbar in den Erzählstrang mit dem Bordell ein, wird jedoch gegen Ende hin vollkommen von einem dritten Erzählstrang überlagert, der Blanches voll Aufmerksamkeit auf sich zieht, nämlich ihr Kennenlernen Antoines mit seiner erschreckenden Poente. Alles in allem ist die Handlung in Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An wahnsinnig spannend von Anfang bis Ende, trotz der kleinen Längen im Mittelteil, doch nimmt für meinen Geschmack eine etwas zu abrupte Wendung: Die initiale Mordfall wird als roter Faden vollkommen fallen gelassen und nur unbefriedigend aufgelöst. Über die Enttäuschung trägt einen jedoch das grandiose Ende hinweg, das fieser, erschütternder und dadurch konsequenter nicht hätte sein können.
Gesamtwertung ♥♥♥♥♥
Vergleiche ich die beiden Werke von Hubert und Kerascoët miteinander, die ich bereits gelesen habe - Schönheit und Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An -, fallen mir vor allem die starken Frauenfiguren auf, die Autor und Zeichner in ihren Graphic Novels so wunderbar zum Leben erwecken. Dabei sind beide Figuren so absolut unterschiedlich. Während Schönheit die Lust und Liebe der Männer geradezu in sich aufsaugt (und daran scheitert), lehnt Blanche sie von Anfang an ab und erfährt ein mindestens ebenso schmerzvolles Schicksal. 'Fräulein Rühr-Mich-Nicht-An' ist eine brutale Geschichte, nicht etwa im Sinne von Gewalt - auch wenn sie durchaus vorkommt -, sondern vielmehr im Sinne der konsequenten Rückschläge, die die Protagonistin - und damit auch der Leser - einstecken muss. Hoffnung und Angst wechseln sich in einer rasanten Achterbahnfahrt ab, jeder Friede scheint trügerisch, man erwartet bereits das nächste schreckliche Unglück, bereitet sich innerlich darauf vor. Doch niemals hört man auf, der Heldin, die eigentlich keine ist, aber trotzdem eine wird, nur das Beste zu wünsche: einen Weg hinaus aus ihrer Misere. Als Frau wünscht man sich einfach, dass sich Blanches starker Wille, ihr stärkstes Schwert gegen eine von Männern beherrschte Welt, sich im Zweifel gegen Unterdrückung, letztlich gegen Missgunst, Menschenverachtung und die herrschenden Strukturen in der Gesellschaft durchsetzt. Doch ganz so einfach machen es uns die Autoren dann doch nicht.
Vielen herzlichen Dank an den
Verlag für das Rezensionsexemplar!
- Eure Bücherfüchsin
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen